Israel steckt in einem Dilemma

Nahostexperte Andreas Böhm sagt, wie es nach der Tötung des Hamas-Chefs und den iranischen Drohungen nun weitergehen könnte. Ein Gespräch mit dem Nahostexperten Andreas Böhm von der Universität Sankt Gallen.

Sankt Gallen von Michael Wrase

Frage: Die Lage im Nahen Osten ist nach Ansicht des amerikanischen Experten Steven A. Cook so gefährlich wie seit 50 Jahren nicht mehr. Laut der New York Times hat Irans Revolutionsführer Khamenei eine Vergeltung definitiv angeordnet. Können wir vor diesem Hintergrund mit neuen Raketenangriffen auf Israel rechnen. Oder könnte die Vergeltung auch anderswo stattfinden?

Böhm: Khamenei hat von direkter Vergeltung gegen Israel gesprochen, es aber offen gelassen, ob diese Vergeltung direkt gegen israelische Gebiete ausgerichtet ist. Theoretisch könnte sie sich auch gegen israelische Institutionen, also Botschaften, richten.

Frage: Khamenei meint es tatsächlich ernst?

Böhm: Das ist anzunehmen. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist, ob es wieder so eine choreografierte Aktion gibtwie im April, als die Iraner in Israel wohl ganz bewusst keinen grösseren Schaden anrichten wollten. Oder ob die Iraner dieses Mal mit ihren Raketen Israel richtig wehtun wollen.

Frage: Was wäre denn der wichtigste Grund für eine iranische Vergeltung? Nur wegen Herrn Hanija wird Khamenei doch keinen einen neuen Nahostkrieg starten?

Böhm: Die Interessenslage der Iraner ist relativ klar. Wenn sie eines nicht wollen, dann ist es ein neuer regionaler Krieg. Und wegen Hamas würden sie normalerweise auch kein Risiko eingehen. Das Problem ist aber ein ganz anderes: In Teheran wurde am Mittwoch ein hochrangiger Gast nach der Amtseinführung des iranischen Präsidenten in einer offiziellen Residenz ermordet. Diese Blamage können die Iraner nicht auf sich sitzen lassen.

Frage: Es geht also um die Wiederherstellung der eigenen Glaubwürdigkeit gegenüber den Verbündeten im Nahen Osten?

Böhm: Genau. Und um eine gewisse Abschreckung wiederherzustellen. Es ist ja letztendlich die ganz grundlegende Funktion eines Staates, dass er innerhalb seiner Grenzen für Sicherheit sorgt. Und wenn ein Staat dazu nicht in der Lage ist, hat er ein ganz massives Legitimationsproblem. In dem Sinne braucht es eine performative abschreckende Wirkung, um zu verhindern, dass nicht der Eindruck entsteht, dass Israel und der Mossad auf iranischem Staatsgebiet machen können was sie wollen. Obwohl dies faktisch wohl zutrifft.

Frage: Israel sieht sich seit dem 7.Oktober in einem existenziellen Konflikt. Was hofft die Regierung mit der Ausschaltung ihrer Erzfeinde zu erreichen? Auch die weltweiten Vergeltungsaktionen nach den Terrorattacken von München 1972 haben ihre Ziele, die Verhinderung von Terror, nicht erreicht: Terror und Gewalt haben seither ganz massiv zugenommen

Böhm: Das ist genau das Problem. Im Prinzip sind diese israelischen Operationen der Versuch, taktische Erfolge zu erzielen, weil man genau weiss, dass man strategisch in einem Dilemma steckt.

Frage: Was meinem Sie mit einem strategischen Dilemma?

Böhm: Strategisch hat Israel seit dem 7.Oktober enorm verloren, sei in der Wahrnehmung in der Region und in der Weltöffentlichkeit, sei es – im Besonderen – in den Beziehungen zu den USA. Die Unterstützung ist nicht mehr unbedingt. Sowohl Kamella Harris als auch Donald Trump haben Netanjahu bei seinem letzten USA-Besuch zu verstehen, dass er unter ihrer Amtsführung an einer weitaus kürzeren Leine geführt werde als wie gegenwärtig unter Biden. Das heisst: Für Netanjahu gibt es jetzt noch ein gewisses Zeitfenster, um zu agieren, das sich dann im November schliessen wird.

Frage: Welche Auswirkungen wird der Tod von Hanija für die Waffenstillstandsverhandlungen in Gaza haben?

Böhm: Diese Gespräche befanden sich ohnehin in der Sackgasse. Das entscheidende Element ist, dass die Amerikaner jetzt Druck auf Netanjahu machen, um wirklich zu einem Waffenstillstand zu kommen. Hanija hatten bei diesen Gesprächen nicht mehr als eine Briefträgerfunktion. Die wichtigsten Entscheidungen wurden in den Tunnelns von Gaza durch Yahia Sinwar getroffen.

Frage: Auch die Hisbollah wird den Tod ihrer Nummer 2 nicht einfach hinnehmen. Sie haben in letzter Zeit den Libanon häufig besucht. Was wissen sie über die Stimmung innerhalb der Hisbollah, die ja eine ganze Reihe von schweren Militärschlägen hinnehmen musste, ohne darauf aus ihrer Sicht angemessen zu reagieren?

Böhm: Hassan Nasrallah steckt in einem Dilemma. An der Basis wird der Druck, grossen Worten auch Taten folgen zu lassen, immer stärker. Gleichzeitig ist die Hisbollah in einer Zwangslage, was die Situation im Libanon betrifft. Das Land hängt sowieso an einem seidenen Faden über dem Abgrund. Wenn es jetzt zu einem grösseren Krieg käme und grössere Teile der libanesischen Infrastruktur zerstört würden, zöge man die Hisbollah zur Verantwortung, das Land in den Abgrund gestossen zu haben.

Frage: Was die Bewaffnung der Hisbollah angeht, geistert immer die Zahl 150 000 Raketen und Drohnen herum. Das wäre ein gewaltiges Arsenal. Gibt es relativ verlässliche Angaben über die militärischen Möglichkeiten der Hisbollah?

Böhm: Es gib seitens des israelischen Sicherheits- Establishments Szenarien, die davon ausgehen, dass Hisbollah in der Lage wäre, über zwei oder drei Wochen jeden Tag eine vierstellige Zahl von Raketen abzufeuern, wodurch das israelische Luftverteidigungssystem Iron Dome über die Grenzen der Kapazität ausgereizt würde.

Frage: Und dann?

Böhm: Selbst wenn Israel den Libanon dann in die Steinzeit zurückbomben würde, wie der israelische Verteidigungsminister vor einigen Wochen angekündigt hat, würde das an der Ausgangslage nicht so viel ändern: Die Israel wäre auch dann nicht in der Lage, die Hisbollah längerfristig zu eliminieren.

Frage: Das wäre wohl nur dann möglich, wenn Israel, wie im Sommer 1982, bis nach Beirut vordringen würde. Damals hatte man es ja geschafft, den Abzug der palästinensischen Freischärler auf Schiffen durchzusetzen?

Böhm: Zu einer solchen Bodenoffensive ist die israelische Armee heute vermutlich nicht in der Lage. Nach den Operationen in Gaza ist sie ausgelaugt. Es fehlt an Munition und auch die Moral soll, wie man hört, nicht besonders gut sein. Zudem treten Spaltungen in der Gesellschaft immer stärker zu Tage. Auch innerhalb des Establishments.

Frage: Eine grosse Libanonoperation würde demnach ausschliesslich mit der Luftwaffe durchgeführt werden… Wie gross ist die Gefahr, dass im Falle einer Eskalation auch die USA in einem neuen Nahostkrieg hineingezogen werden?

Böhm: Die Biden-Regierung hat Netanjahu bisher keine roten Linien gesetzt haben. Die USA könnt da viel konsequenter agieren. 1982 hatte die Drohung, die Waffenlieferungen einzustellen, zum Ende der Belagerung von Beirut geführt.

Frage: Welche Auswirkungen könnten die Nahostkonflikte auf den amerikanischen Wahlkampf haben?

Antwort: Für Harris wäre es problematischer, weil sie als Vizepräsidentin Teil der Biden-Regierung ist. Trump könnte im Falle einer neuen Eskalation vermutlich punkten. Er würde dann die Biden-Regierung dafür verantwortlich machen, dass sie aus Schwäche diesen neuen Krieg nicht verhindert habe.