Erschossen in ihren Spitalbetten

Nach dem Jubel über den Sturz des verhassten Assad-Clans hat in Syrien die Lynchjustiz begonnen.

Limassol/Damaskus von Michael Wrase

Es sind Bilder, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen: Vor zwei Spitalbetten stehen islamistische „Rebellen“, die, mit ihren Schnellfeuergewehren im Anschlag, die offensichtlich schwer verletzten Patienten mit zorniger Stimme befragen. Der hitzige Dialog dauert eine knappe Minute: Schwer atmend geben die von Kopf bis Fuss verbundenen Männer, bei denen es sich vermutlich um kurdische Milizoffiziere handelt, zu, in einer „Spezialeinheit“ gedient zu haben. Dann werden mehrere gezielte Schüsse abgefeuert – und die beiden syrischen Kurden sind tot.

Natürlich lassen sich die Aufnahmen im Moment nicht verifizieren. Aus dem arabischen Dialog geht jedoch unzweifelhaft hervor, dass die beiden Männer vermutlich nach dem Sturz des Assad-Regimes ermordet wurden. Gleiches trifft auch für zwei Angehörige der alawitischen Minderheit, zu der auch der Assad-Clan gehört, zu: Mit auf dem Rücken gefesselten Händen wurden sie, auf dem Boden knieend und um Gnade flehend, von einem vollbärtigen Milizionär mit mehreren Pistolenschüssen erschossen. „Ihr seid alawitische Schweine“ brüllte der Mann vor der Mordtat, nach der der Allmächtige lautstark gepriesen wird.

Dutzende solcher Videoclips sind in den letzten Tagen in den sozialen Medien veröffentlicht worden. Verifizierbar sind auch diese entsetzlichen Aufnahmen noch nicht. Dass die Morde von den Verursachern selbst oder ihren Helfershelfern gefilmt und ins Netz gestellt wurden, zeigt, wie stolz diese Islamisten auf ihre Mordtaten sind. Sie waren offenbar fest davon überzeugt, völlig richtig gehandelt zu haben.

Ähnliche Videoclips hatten auch die Terroristen von Al Kaida und des sogenannten Islamischen Staat (IS) vor einigen Jahren ins Netz gestellt. Ihre dokumentierten Mordtaten waren damals eine Machtdemonstration – und sie sind es vermutlich auch heute noch. Vielleicht etwas anders liegt der Fall bei Sulaiman Hilal al-Assad: Der Cousin von Ex-Präsident Baschar wurde am Montag in der Küstenstadt Latakia von einer aufgebrachten Menschenmenge gelyncht: Auf dem ins Netz gestellten Videoclip sieht man, wie der Verwandte des Diktators, ein landesweit bekannter Drogendealer, an der Seilwinde eines Baukrans hängt, langsam hochzogen und erdrosselt wird. Die umstehenden Syrer, es sind Hunderte, sind begeistert und recken, laut „Allah ist Gross“ rufend, ihre Fäuste.

Für Landeskenner kommt die Lynchjustiz nach dem Sturz des verhassten Assad-Regimes nicht überraschend. „Es gibt viel Blut und Hass in Syrien, vor allem auf diejenigen, die in den letzten sechs Jahren von Iran und von Russland unterstützt wurden“, sagte der für „United Voices for America“ tätige Syrien-Kenner Ahmed Bedier im Interview mit Al Jazeera und fragte: „Werden diejenigen, die jetzt das Assad-Regime gestürzt haben, jetzt vergessen und sich auf eine Versöhnung einlassen, um vorankommen?“ Die Antwort blieb Bedier schuldig. Doch die Videoclips aus Syrien sowie Berichte von Augenzeugen, die der Korrespondent dieser Zeitung in den letzten Tagen in Syrien kontaktierte, sind ziemlich eindeutig: Die neuen Machthaber in Syrien wollen die Schergen, die Helfershelfer des Assad-Regimes zur Rechenschaft ziehen.

„Die syrischen Behörden werden eine Liste mit den Namen der Ranghöchsten Beamten veröffentlichen, die in die Folterung des syrischen Volkes verwickelt sind“, schrieb der Anführer des islamistischen Rebellenbündnis Hait Tahrir al-Scham (HTS), Abu Mohammed al Julani, am Dienstag im Onlinedienst Telegram. Er verlangte die Auslieferung von allen Kriegsverbrechern, „damit sie ihre gerechte Strafe erhalten können“.

Es ist zu befürchten, dass „die Ranghöchsten“ unter den unter Assad dienenden Folterknechten im Iran, Russland sowie bei pro-iranischen Milizen im Irak Unterschlupf gefunden haben. Die islamistischen Rebellen verhaften daher häufig mutmassliche „Mitläufer“ des Regimes, unter den vor allem Angehörige der alawitischen Minderheit, Christen und Schiiten sind. Nicht wenige werden sofort nach ihrer Festsetzung brutal ermordet oder schwer misshandelt.

Andere werden an Ort und Stelle „umerzogen“: So sind auf einen Videoclip rund 500, von HTS-Rebellen, bewachte Assad-Soldaten zu sehen, die, auf dem Boden knieend, gezwungen werden, die islamistischen Schlachtrufe der neuen Machthaber zu brüllen. Wer nicht laut genug schreit, wird mit der Waffe bedroht.