Frage: Nach dem so massiven Raketenschlagabtausch zwischen der Hisbollah und Israel am vorletzten Wochenende versucht die israelische Armee nun im Westjordanland mit einer neuen Grossoffensive gegen die dortigen Hamas-Zellen den islamistischen Terror einzudämmen. Wird dies gelingen?
Krieg: Es ist davon auszugehen, dass diese Operation noch mehr Unmut, Wut und Verzweiflung, als dort ohnehin schon herrscht, hervorrufen wird. Im Westjordanland stechen die israelischen Streitkräfte möglicherweise in ein Wespennest, was im schlimmsten Fall auch zu einer Mobilisierung der palästinensischen (arabischen) Gemeinden in Israel selbst führen könnte. Dies würde eine Front eröffnen, die Israel dann nicht mehr kontrollieren kann.
Frage: Währenddessen sollen die Verhandlungen zur Erreichung eines Waffenstillstandes im Gazastreifens und der Freilassung der israelischen Geiseln fortgesetzt werden. Halten Sie einen Durchbruch noch für möglich?
Krieg: Die Situation hat sich mit der Ermordung von Hanieh in Teheran grundlegend geändert. Jetzt hat der Hardliner Sirwan, der sich im Gazastreifen eingegraben hat, allein das Sagen. Gleichzeitig hat die Netanjahu-Regierung hat mit dem Beharren auf Sicherheitskorridore im Gazastreifen neue Hindernisse aufgebaut.
Der israelische Premierminister ist an einem Ende des Krieges nicht interessiert. Mehr als nur einmal hat der demonstriert, dass er für die Erreichung seiner Kriegsziele willens ist, die Geiseln zu opfern.
Frage: Trotzdem gehen die Gespräche weiter?
Krieg: Nüchtern betrachtet sind die in Kairo oder Doha geführten Gespräche nur Show: Damit die Amerikaner zeigen können, dass man es mit Diplomatie zumindest versucht hat. Dabei weiss Washington ganz genau, dass es im Grunde genommen nicht zu verhandeln gibt. Netanjahu ist gegenwärtig das grösste Hinderniss in den diplomatischen Anstrengungen zur Krisenbewältigung. Leider wird der Israeli von den USA nicht unter Druck gesetzt. Sie könnten ihre Waffenlieferungen als Druckmittel einsetzten, sind im Wahlkampf aber nicht gewillt, sich kritisch gegenüber Israel zu äussern. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich bis zu den November-Wahlen in dieser Sache nichts bewegen wird.
Frage: Eine Art „Stellungskrieg“ tobt auch zwischen Israel und der Hisbollah? Wird es dabei bleiben?
Krieg: Seit Monaten sind Israel und Hisbollah dabei, die roten Linien in diesem „Stand off“ zu testen und manches Mal auch zu überschreiten. Die Ermordung von Shukr in Beirut und Hamas-Chef Hanieh in Teheran waren klare Schritte der Eskalation, mit denen die Netanjahu-Regierung testen wollte, in weit der Iran und die sogenannte Achse des Widerstandes willig sind, in einen Krieg mit Israel einzutreten.
Trotz allem haben beide Seiten kein Interesse an einen gross angelegten Krieg im Libanon.
Einen grösseren Krieg kann sich Hisbollah und damit auch der Libanon wirtschaftlich nicht leisten. Er wäre absolut verheerend.
Frage: Und Israel?
Krieg: Was für die Hisbollah gilt, gilt auch für Israel.
Die israelische Armee ist extrem geschwächt durch den Krieg im Gaza. Nach eigenen Angaben haben die Israelis zwischen 70 000 und 100 000 Soldaten, die entweder psychisch oder physisch durch den Krieg in Gaza beeinträchtigt worden sind. Ob das nun post-traumatischer Stress ist oder Tausende von Soldaten, die ihre Gliedmassen verloren haben. Oder die vielen Toten.
Auch weil ein Kriegsende in Gaza nicht in Sicht ist, hat man nicht die Kapazitäten in den Libanon einmarschieren oder dort grösser angelegte Operationen durchzuführen. Der Appetit, dieses Risiko einzugehen, ist in Israel einfach nicht vorhanden.
Frage: Hisbollah hat Mitte August ein Propaganda-Video veröffentlicht, um die eigene „Raketenschlagkraft“ zu demonstrieren. Was muss man davon halten?
Krieg: Das letzte Mal, als ich im Südlibanon war, war ich wirklich geschockt, zu sehen, was die Hisbollah dort alles aufgebaut hat. Die Tunnelsysteme, die Stollen die in den letzten 15 Jahren gegraben worden sind, sind extrem tief, sehr gut geschützt vor Luftschlägen. Für den Bau wurden Experten aus dem Iran und Nord-Korea eingeflogen, die sich wirklich mit dieser Art von Tunnelsystemen auskennen.
Frage: Nach dem Krieg von 2006 gegen Israel hatte die Hisbollah 18 Jahre Zeit, um ihr Raketenarsenal mit der Hilfe des Iran aufzubauen. Wie stark ist die Hisbollah heute tatsächlich? Wie gross ist die Raketenbedrohung für Israel?
Krieg: Wir reden hier aber von einer Zahl von weiter über 100 000 Raketen und Drohnen. Auch schwere Lenkwaffen, die zum Teil noch nicht getestet worden sind. Bei einem israelischen Grossangriff auf en Libanon würde die Hisbollah eskalieren. Jede israelische Stadt wäre den Raketen der Hisbollah ausliefert, die Schäden wären enorm, die israelische Luftabwehr hätte vermutlich kaum Chancen: Nicht nur wegen der enormen Anzahl der Geschosse, die abgefeuert würden, sondern auch von der Technik, die dahinter liegt. Die Antriebssysteme dieser Raketen machen sie extrem schnell; sie würden nicht horizontal, sondern vertikal auf ihre Ziele abgefeuert werden und wären daher extrem schwer abzufangen.
Das heisst: Die wirtschaftlichen Schäden, vor allem an der Infrastruktur, wären für Israel enorm. Ein normales Leben in Israel, wie gegenwärtig noch immer, wäre dann nicht mehr möglich.
Frage: Sieht das Netanjahu genauso?
Krieg: Die Netanjahu-Regierung würde eine weitere Eskalation vermutlich positiv bewerten. Wir dürfen nicht vergessen, dass es Netanjahu in den letzten 10 Monaten wieder geschafft hat, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu bringen.
Frage: Seit der als gemässigt geltende Präsident Peseschkian die Amtsgeschäfte übernommen hat, kommen aus Iran etwas leisere Töne. Ist da ein Richtungswechsel zu erwarten?
Krieg: Die neue Regierung im Iran versucht dem Westen und auch einer demokratisch geführten Regierung in den USA zu suggerieren, dass sie an Diplomatie wieder interessiert ist, an Mässigung.
Eine erneute Eskalation im Nahen Osten, das hat man in Teheran richtig erkannt, würde der Trump-Kampagne helfen und demonstrieren, dass die die gesamte Politik von Biden im Nahen Osten nicht erfolgreich war, was für Biden und damit auch für Kamala Harris, der mutmasslichen „Favoritin“ des iranischen regimes, von schwerem Schaden wäre.
Frage: Wie gross ist der Einfluss von Herrn Peseschkian tatsächlich?
Krieg: Der Einfluss der neuen Regierung ist spürbar, Die Sicherheits und Aussenpolitk seines Landes kann er aber nicht alleine gestalten. Das macht der „deep state“ um Revolutionsführer Ali Khamenei.
Die Tatsache, dass Peseschkian gewählt wurde, zeigt dass das Regime ein Interesse hat einen moderaten Kandidaten auf die Weltbühne zu schicken.
Frage: Heisst das auch, dass Iran an einer Gewalteskalation im Nahen Osten kein Interesse hat?
Krieg: Dass der Iran an einer Gewalteskalation im Moment kein Interesse hat, hat andere Gründe: Die Wirtschaftslage ist katastrophal. Die Bevölkerung steht nicht mehr hinter dem Regime und betrachtet die Kriege der sogenannten Achse des Widerstandes extrem kritisch. Von daher ist ein grosser Krieg für die iranische Gesellschaft untragbar.
Frage: Heisst das, keine Vergeltung für den Tod von Hanieh geübt wird?
Krieg: Das Fenster der Vergeltung schliesst sich je weiter der Zeitpunkt der Ermordung von Hanieh zurückliegt. Das heisst aber nicht, dass es irgendwann zu Vergeltungsschläge gegen israelische oder jüdische Ziele kommen wird.
Andreas Krieg (engl.)
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