„Brutal und zynisch, mit der Tendenz immer als Sieger hervorzugehen“

Wird  Abu Mohammed al-Julani der neue Herrscher in Damaskus? Fünf Fragen und Antworten zur Lage in Syrien.

Salalah/Damaskus von Michael Wrase

Seit einer Woche befindet sich ein von der syrischen Islamistengruppe Haiat-Tahrir al-Scham (HTS) angeführtes Rebellenbündnis auf dem Vormarsch. Nach dem Fall der Millionenmetropole Aleppo stehen die Brigaden der rund 25 000 Mann starken Extremistenvereinigung nur noch 10 Kilometer nördlich von Hama, der viertgrössten Stadt Syriens. Ziel des „HTS“ ist der Sturz des Assad-Regimes, das eine Konteroffensive angekündigt hat, die bislang erfolglos blieb.

Um die weitverbreitete Angst der syrischen Zivilbevölkerung vor einer Machtübernahme der Islamisten zu zerstreuen, hatte HTS-Führer Abu Mohammad al-Julani am Wochenende seine Kämpfer aufgefordert, „ein Vorbild für Toleranz und Güte“ zu sein. „Der Islam hat uns Güte und Barmherzigkeit gelehrt“, betonte al-Julani. Der 42 Jahre alte Rebellenführer hatte sich vor acht Jahren von der im Irak entstandenen Terrororganisation Al Kaida abgespaltet, um sich in Syrien auf den Kampf gegen das Assad-Regime zu konzentrieren. Seiner Gruppe versucht er seither, einen moderaten Anstrich zu verpassen.

 

Frage: Wer ist Abu Mohammed al-Julani wirklich?

Antwort: „Al-Julani lässt sich am besten als einen Syrer beschreiben, der aus demselben Holz geschnitzt ist wie die Assads: brutal und zynisch, mit der Tendenz, immer als Sieger hervorzugehen“, schreibt der aus Syrien stammende amerikanische Terrorexperte Hassan Hassan in einem Beitrag für das „New Lines Magazine“. Al-Julani sei es gelungen, „die Führer der beiden grössten Terrororganisationen der Welt zu überlisten. Sein Ziel sei es, die „HTS“ zu einem toleranten Äquivalent der Taliban aufzubauen, mit internationaler Duldung, wenn nicht gar Anerkennung seiner Herrschaft“.

Frage: Weil sich die Assad-Truppen und ihrer von Iran unterstützten Verbündeten kampflos zurückzogen, ist die Grossoffensive des HTS bisher weitgehend unblutig verlaufen. Wie hat die Zivilbevölkerung auf den Vormarsch der Islamisten reagiert?

Antwort: Das islamistische Rebellenbündnis ist in Nord-Syrien relativ populär. Die Eroberung von Aleppo sowie von weit über 200 weiteren Dörfern und Kleinstädten wurde von den meisten Bewohnern als „Befreiung“ empfunden und entsprechend gefeiert. Zehntausende von Syrern, vor allem Angehörige der alawitischen Minderheit, zu der auch der Assad-Clan gehört, sowie chaldäische und armenische Christen, sind allerdings aus der Region Aleppo geflohen. Sie befürchten, dass al-Julani ein Kalifat nach dem Vorbild der Taliban aufbaut, sobald er seine Macht konsolidiert hat.

Frage: Wird sich das Assad-Regime an der Macht halten können?

Antwort: Nachdem die Regimetruppen und ihre wichtigsten Verbündeten, die libanesische Hisbollah mit ihren Helfershelfern aus Irak und Pakistan sowie die iranischen Revolutionsgardisten, ihre Stellungen in Nord-Syrien weitgehend kampflos geräumt haben, werden nördlich der 900 000 Einwohner-Stadt Hama jetzt Verteidigungslinien errichtet. Moskau und Teheran haben Assad Unterstützung zugesagt. Die russische Luftwaffe ist in Nord-Syrien mit rund 15 Flugzeugen im Dauereinsatz. Aus Irak sollen Tausende von pro-iranischen Milizionären in Syrien eingetroffen sein. Sollte es dem Assad-Lager gelingen, Hama zu halten und eine Gegenoffensive einzuleiten, wäre die Gefahr eines Regime-Wechsel in Damaskus erst einmal gebannt, aber keineswegs vom Tisch.

Frage: Wie lässt sich der Erfolg des HTS erklären? Bekommt das islamistische Rebellenbündnis internationale oder regionale Unterstützung?

Antwort: Hauptgrund für den Zusammenbruch des Assad-Regimes in weiten Teilen Nord-Syriens ist der taktische Sieg der israelischen Armee über die Hisbollah im Libanon. Um die pro-iranischen Milizionäre entscheidend zu schwächen, hatte die israelische Luftwaffe auch in Syrien zahlreiche Stellungen der Hisbollah, der iranischen Revolutionsgardisten sowie der Assad-Truppen massiv bombardiert. Von dem so entstandenen militärischen Vakuum haben die Verbände des HTS zweifellos profitiert. Dass gleichzeitig Russland Truppen, Flugzeuge und Militärgerät aus Syrien abgezogen hat, spielt den Islamisten, die umfangreiche Militärhilfe aus der Türkei erhalten, ebenfalls in die Karten. Selbst die Ukraine rühmt sich, den HTS zu unterstützen. Laut der „Kyiv Post“ vom 1.Dezember hat der ukrainische Geheimdienst dem Islamistenbündnis den Umgang mit kriegserprobten Kampfdrohnen erklärt. Kyiv will Putin schwächen, wo immer es möglich ist. Für den Kreml-Herrscher wäre der Fall des Assad-Regimes eine Katastrophe.

Frage: Wie verhalten sich die USA im Machtspiel um Syrien?

Antwort: Die USA haben die HTS-Rebellen als Terrororganisation eingestuft und ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar auf Abu Mohammed al-Julani ausgesetzt. Aktionen zu seiner Eliminierung, wie etwa gezielte Drohnenangriffe, werden aber nicht unternommen. Der ehemalige US-Sonderbeauftragte für Syrien, James Jeffrey, hatte die HTS-Rebellen einmal als die „am wenigsten schlechte unter den verschiedenen Optionen des syrischen Widerstandes“ bezeichnet – eine Ansicht, die auch von Saudi-Arabien und anderen arabischen Staaten geteilt werden dürfte.